Der EuGH hat am 17.12.2020 entschieden:

Ein Hersteller darf keine Abschalteinrichtung einbauen, die bei Zulassungsverfahren systematisch die Leistung des Systems zur Kontrolle der Emissionen von Fahrzeugen verbessert, um ihre Zulassung zu erreichen

In der Pressemitteilung 170/20 dazu heißt es:

Ein Hersteller darf keine Abschalteinrichtung einbauen, die bei
Zulassungsverfahren systematisch die Leistung des Systems zur Kontrolle der
Emissionen von Fahrzeugen verbessert, um ihre Zulassung zu erreichen

Die Tatsache, dass eine solche Abschalteinrichtung dazu beiträgt, den Verschleiß oder die
Verschmutzung des Motors zu verhindern, kann ihr Vorhandensein nicht rechtfertigen

Das Unternehmen X ist ein Automobilhersteller, der in Frankreich Kraftfahrzeuge vertreibt. Dieses
Unternehmen soll Fahrzeuge mit einer Software auf den Markt gebracht haben, die geeignet ist,
die Ergebnisse der Zulassungstests in Bezug auf Emissionen von Schadstoffen wie Stickoxiden
(im Folgenden: NOx) zu verfälschen.
Infolge von Enthüllungen in der Presse leitete die Staatsanwaltschaft Paris (Frankreich) eine
Untersuchung ein, aufgrund deren es zu einem Ermittlungsverfahren gegen das Unternehmen X
kam. Die mutmaßliche Straftat soll darin bestehen, dass die Erwerber von Fahrzeugen mit
Dieselmotoren über wesentliche Eigenschaften dieser Fahrzeuge und über die vor ihrem
Inverkehrbringen durchgeführten Kontrollen getäuscht wurden.
Die fraglichen Fahrzeuge waren mit einem Ventil zur Abgasrückführung (AGR) ausgestattet. Das
AGR-Ventil ist eine der Technologien, die von den Automobilherstellern zur Kontrolle und
Verringerung der endgültigen NOx-Emissionen verwendet werden. Es handelt sich um ein System,
das darin besteht, einen Teil der Abgase von Verbrennungsmotoren zum Ansaugkrümmer, d. h.
dorthin, wo die dem Motor zugeführte Frischluft eintritt, zurückzuführen, um die endgültigen NOxEmissionen zu verringern.
Vor ihrem Inverkehrbringen wurden diese Fahrzeuge in einem Labor Zulassungstests nach einem
anhand verschiedener technischer Parameter (Temperatur, Geschwindigkeit etc.) vordefinierten
Zyklus (dem Neuen Europäischen Fahrzyklus, NEFZ) unterzogen. Diese Tests dienen unter
anderem dazu, die Höhe der NOx-Emissionen und die Einhaltung der insoweit in der Verordnung
Nr. 715/20071
festgelegten Grenzwerte zu überprüfen. Die Emissionen der fraglichen Fahrzeuge
waren somit nicht unter realen Fahrbedingungen analysiert worden.
Ein technisches Gutachten, das im Rahmen des Ermittlungsverfahrens erstellt wurde, kam zu dem
Ergebnis, dass die fraglichen Fahrzeuge über eine Einrichtung verfügen, die es ermöglicht, die
Phasen der Zulassungstests zu erkennen und infolgedessen die Funktion des AGR-Systems so
anzupassen, dass die vorgeschriebene Emissionsobergrenze eingehalten wird. Umgekehrt führt
diese Einrichtung unter anderen Bedingungen als jenen der Zulassungstests, d. h. beim normalen
Fahrbetrieb, zu einer (teilweisen) Deaktivierung des AGR-Systems und damit zu einer Erhöhung
der NOx-Emissionen. Der Gutachter gab an, dass die Fahrzeuge erheblich weniger NOx erzeugt
hätten, wenn das AGR-System bei realem Fahrbetrieb so funktioniert hätte wie bei den
Zulassungstests. Bei diesen Fahrzeugen wären aber unter anderem aufgrund einer schnelleren
Verschmutzung des Motors häufigere und kostspieligere Wartungsarbeiten angefallen.

1 Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2007 über die Typgenehmigung von
Kraftfahrzeugen hinsichtlich der Emissionen von leichten Personenkraftwagen und Nutzfahrzeugen (Euro 5 und Euro 6)
und über den Zugang zu Reparatur- und Wartungsinformationen für Fahrzeuge (ABl. 2007, L 171, S. 1).
www.curia.europa.eu
Die Verordnung Nr. 715/2007 verbietet ausdrücklich die Verwendung von Abschalteinrichtungen,
die die Wirkung von Emissionskontrollsystemen unter normalen Nutzungsbedingungen verringern.
Das nationale Gericht hat beschlossen, den Gerichtshof anzurufen, um Klarstellungen
insbesondere zur Definition und zur Tragweite der Begriffe „Emissionskontrollsystem“ und
„Abschalteinrichtung“ zu erhalten.
In seinem heutigen Urteil führt der Gerichtshof aus, dass zunächst zu prüfen ist, ob eine in den
Rechner zur Motorsteuerung integrierte oder auf ihn einwirkende Software ein „Konstruktionsteil“
im Sinne der Verordnung Nr. 715/2007 darstellt. Der Begriff „Abschalteinrichtung“ wird in dieser
Verordnung definiert als „ein Konstruktionsteil, das die Temperatur, die Fahrzeuggeschwindigkeit,
die Motordrehzahl (UpM), den eingelegten Getriebegang, den Unterdruck im Einlasskrümmer oder
sonstige Parameter ermittelt, um die Funktion eines beliebigen Teils des Emissionskontrollsystems
zu aktivieren, zu verändern, zu verzögern oder zu deaktivieren, wodurch die Wirksamkeit des
Emissionskontrollsystems unter Bedingungen, die bei normalem Fahrzeugbetrieb
vernünftigerweise zu erwarten sind, verringert wird“. Der Begriff „Konstruktionsteil“ wird in der
Verordnung nicht definiert. Nach seinem üblichen Sinn bezeichnet dieser Begriff einen im Hinblick
auf seine Einbeziehung in ein funktionales Ganzes hergestellten Gegenstand. Wie aus der
Verordnung hervorgeht, bezeichnet der dort definierte Begriff der Abschalteinrichtung „ein“, d. h.
jedes Konstruktionsteil. Die Wirksamkeit der Entgiftung hängt mit der Öffnung des AGR-Ventils
zusammen, das durch den Quellcode der in den Rechner integrierten Software gesteuert wird. Da
sie somit auf die Funktion des Emissionskontrollsystems einwirkt und dessen Wirksamkeit
verringert, handelt es sich bei einer in den Rechner zur Motorsteuerung integrierten
Software wie der hier in Rede stehenden um ein „Konstruktionsteil“ im Sinne der Verordnung
Nr. 715/2007.
Der Gerichtshof prüft sodann, ob die im AGR-System verwendete Technologie, bei der die
Emissionen im Vorhinein, d. h. bei ihrer Entstehung im Motor selbst, verringert werden, unter den
Begriff „Emissionskontrollsystem“ im Sinne der Verordnung fällt. In der Verordnung als solcher wird
dieser Begriff nicht definiert, aber in ihrer Präambel heißt es, dass es angesichts des mit ihr
angestrebten Ziels der Verringerung von Emissionen erforderlich sei, Einrichtungen zur Messung
und Kontrolle der bei der Nutzung eines Fahrzeugs auftretenden Emissionen vorzusehen. Ferner
wird in der Verordnung das von den Herstellern zu erreichende Ziel einer Begrenzung der
Auspuffemissionen festgelegt, ohne die Mittel zu seiner Erreichung näher anzugeben. Sie
sieht nämlich vor, dass die vom Hersteller ergriffenen technischen Maßnahmen sicherstellen
müssen, dass u. a. die Auspuffemissionen während der gesamten normalen Lebensdauer eines
Fahrzeugs bei normalen Nutzungsbedingungen wirkungsvoll begrenzt werden. Bei den
Typgenehmigungen von Kraftfahrzeugen wird die Höhe der Emissionen stets am Auslass des
Auspuffs gemessen. Eine Differenzierung zwischen der Strategie, die Abgasemissionen nach ihrer
Entstehung zu reduzieren, und der Strategie, mit der sie bei ihrer Entstehung begrenzt werden
sollen, kann deshalb nicht vorgenommen werden. Aus der Verordnung Nr. 715/2007 ergibt sich
somit, dass der Begriff „Emissionskontrollsystem“ sowohl die Technologien und die im Motor der
Fahrzeuge ansetzende Strategie zur Begrenzung von Emissionen umfasst als auch diejenigen, mit
denen die Emissionen nach ihrer Entstehung verringert werden sollen. Daraus ist zu schließen,
dass sowohl die Technologien und die Strategie, mit denen die Emissionen im Nachhinein,
d. h. nach ihrer Entstehung, verringert werden, als auch diejenigen, mit denen – wie mit
dem AGR-System – die Emissionen im Vorhinein, d. h. bei ihrer Entstehung, verringert
werden, unter den Begriff „Emissionskontrollsystem“ fallen.
Ferner prüft der Gerichtshof, ob eine Einrichtung, die jeden Parameter im Zusammenhang mit dem
Ablauf der Zulassungsverfahren erkennt, um die Leistung des Emissionskontrollsystems bei
diesen Verfahren zu verbessern und so die Zulassung des Fahrzeugs zu erreichen, eine
„Abschalteinrichtung“ darstellt, selbst wenn eine solche Verbesserung punktuell auch unter
normalen Nutzungsbedingungen des Fahrzeugs beobachtet werden kann. Er weist darauf hin,
dass die Fahrzeuge im Rahmen der teilweisen Zulassung in Bezug auf Schadstoffemissionen
anhand des NEFZ-Geschwindigkeitsprofils getestet werden, das darin besteht, im Labor vier
Cityzyklen, gefolgt von einem Überlandzyklus, zu durchlaufen. Mit ihm lässt sich u. a. prüfen, ob
die emittierte NOx-Menge unter dem in der Verordnung Nr. 715/2007 vorgesehenen Grenzwert
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liegt. Die Testzyklen für die Emissionen von Fahrzeugen im Rahmen dieses Verfahrens
beruhen somit nicht auf den tatsächlichen Fahrbedingungen. Die in Rede stehende Software
ermöglicht es, die Parameter zu erkennen, die denen der Labortests anhand des NEFZ-Profils
entsprechen, und gegebenenfalls den Öffnungsgrad des AGR-Ventils zu erhöhen, um einen
größeren Teil der Abgase zum Ansaugkrümmer zurückzuführen und so die Emissionen des
getesteten Fahrzeugs zu verringern. Sie ermöglicht es mithin, die Funktion des AGR-Ventils zu
verstärken, damit die Emissionen unter den in der Verordnung Nr. 715/2007 festgelegten
Grenzwerten liegen. Nach einer Prüfung des Begriffs „Abschalteinrichtung“ im Sinne dieser
Verordnung kommt der Gerichtshof zu dem Schluss, dass eine Software, die wie die in Rede
stehende Software die Höhe der Fahrzeugemissionen nach Maßgabe der von ihr erkannten
Fahrbedingungen modifiziert und die Einhaltung der Emissionsgrenzwerte nur unter
Bedingungen gewährleistet, die den für die Zulassungsverfahren geltenden Bedingungen
entsprechen, eine solche Abschalteinrichtung darstellt. Dies gilt selbst dann, wenn die
Verbesserung der Leistung des Emissionskontrollsystems punktuell auch unter normalen
Nutzungsbedingungen des Fahrzeugs beobachtet werden kann. Die Tatsache, dass die
normalen Nutzungsbedingungen der Fahrzeuge ausnahmsweise den für die Zulassungsverfahren
geltenden Fahrbedingungen entsprechen und punktuell die Leistung der fraglichen Einrichtung
verbessern können, wirkt sich auf diese Auslegung nicht aus, denn unter den normalen
Nutzungsbedingungen der Fahrzeuge wird das Ziel, die NOx-Emissionen zu verringern, für
gewöhnlich nicht erreicht.
Zu der Frage, ob der grundsätzlich unzulässige Einbau einer Abschalteinrichtung, die die
Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems verringert, gerechtfertigt werden kann, führt der
Gerichtshof aus, dass das Vorhandensein einer solchen Einrichtung es, um gerechtfertigt zu
sein, ermöglichen muss, den Motor vor plötzlichen und außergewöhnlichen Schäden zu
schützen, und dass nur unmittelbare Beschädigungsrisiken, die zu einer konkreten Gefahr
während des Betriebs des Fahrzeugs führen, geeignet sind, die Nutzung einer
Abschalteinrichtung zu rechtfertigen. Das in der Verordnung aufgestellte Verbot würde nämlich
seiner Substanz entleert und jeder praktischen Wirksamkeit beraubt, wenn es möglich wäre, auf
unzulässige Abschalteinrichtungen allein mit dem Ziel zurückzugreifen, den Motor vor
Verschmutzung und Verschleiß zu bewahren. Daraus ist zu schließen, dass eine
Abschalteinrichtung, die bei Zulassungsverfahren systematisch die Leistung des Systems
zur Kontrolle der Emissionen von Fahrzeugen verbessert, damit die in der Verordnung
festgelegten Emissionsgrenzwerte eingehalten werden und so die Zulassung dieser
Fahrzeuge erreicht wird, nicht unter die Ausnahme von dem in der Verordnung
aufgestellten Verbot solcher Einrichtungen fallen kann, selbst wenn die Einrichtung dazu
beiträgt, den Verschleiß oder die Verschmutzung des Motors zu verhindern.

Quelle: Ein Hersteller darf keine Abschalteinrichtung einbauen, die bei Zulassungsverfahren systematisch die Leistung des Systems zur Kontrolle der Emissionen von Fahrzeugen verbessert, um ihre Zulassung zu erreichen (europa.eu)